Respekt vor dem Alter?!
Auuuaaahhh! Ein stechender Schmerz durchzuckt mein ganzes Bein. »Welch ein Idiot kann denn da nicht mit seinem Einkaufswagen umgehen«, schießt mir durch den Kopf. Ich drehe mich um und entdecke hinter mir erst einen fast leeren Einkaufswagen und dahinter eine kleine zierliche Frau. Ihr Alter schätze ich jenseits der 70.
Mit großen Augen schaut sie mich an. Sekundenlang stehen wir so da und wissen beide nicht so recht, wie wir reagieren sollen. Plötzlich dreht die Frau ihren Kopf zur Seite, greift beherzt ihren Wagen und verlässt, ohne ein Wort zu sagen, die Schlange an dieser Supermarktkasse. Flott schiebt sie ihr Gefährt vor sich her und stellt sich zwei Kassen weiter an das Ende der dortigen Reihe. Ich bin sprachlos. Kein Wort des Bedauerns, kein Wort der Entschuldigung ist über ihre Lippen gekommen. Dafür, dass sie mir hinterrücks ihren Einkaufswagen in die Hacken geschoben hat, ist mir das etwas zu wenig. »Eine Frechheit«, denke ich mir. »Rücksichtslos bis zum geht nicht mehr. Gerade von Menschen, die auf ein langes Leben zurückblicken können, sollte man ein besseres Benehmen erwarten dürfen.« Noch am Überlegen, wie ich reagieren soll, drängt sich eine Geschichte in mein Bewusstsein, die ich auf Facebook gelesen habe.
Beim Rentenberater
Eine ältere Frau sitzt (vor einigen Jahren) beim Rentenberater. Dieser fragt sie: »Was haben Sie denn in ihrem Leben so alles gearbeitet?« Sie zählt auf: »Nach dem Krieg war ich alleine. Mein Mann war in den letzten Kriegstagen gefallen und ich musste zusehen, wie ich unsere drei kleinen Kinder großziehe. Alleine lassen konnte ich sie nicht; und ich war froh, dass uns Freunde und Nachbarn immer wieder etwas zu Essen gaben. Relativ schnell habe ich daher wieder geheiratet. Meine jüngste Tochter hat dann mit 17 Zwillinge bekommen. Um ihr die Schule und eine Ausbildung zu ermöglichen,
habe ich mich um die beiden gekümmert. Und war auch da, als die Jungs größer wurden, denn der Kindsvater, ein Soldat der Alliierten, wollte von meiner Tochter und seinen Kindern nichts wissen und war dann auch verschwunden. Dann wurden meine Eltern pflegebedürftig und so war ich auch da sehr eingespannt. Als sie kurz nacheinander starben, wollte ich eigentlich meinen Mann im Büro seiner Firma unterstützen. Doch es stellte sich auch bei meinen anderen beiden Kindern Nachwuchs ein, womit ich sie nicht allein lassen wollte. Mein Mann hatte dann einen schweren Arbeitsunfall, wurde arbeitsunfähig und bedurfte der ständigen Pflege, die selbstverständlich ich übernommen habe. Bis zu seinem Tod habe ich die Betreuung nie anderen überlassen.«
Der Rentenberater schaut sie ein wenig mitleidig an und sagt: »Aha, richtig gearbeitet haben Sie also nie!«
Erfahrungen eines langen Lebens
Plötzlich ist mein Zorn auf diese rücksichtslose, ältere Frau mit ihrem Einkaufswagen verflogen. »Was weiß ich denn eigentlich von dieser Frau?« geht mir durch den Kopf. »Nichts! Gar nichts!« Jeder ältere Mensch, der mir begegnet, trägt Erfahrungen aus einem langen Leben mit sich. Ein Leben, das aus Höhen und Tiefen besteht, aus frohen und traurigen Ereignissen, aus Hochgefühlen und Verzweiflung. Und alle Erfahrungen haben dazu beigetragen, den Menschen zu dem zu machen, der er oder sie nun schließlich geworden ist. So ist es mir bisher ja auch ergangen. Meine Erfahrungen der letzten 54 Jahre haben dazu beigetragen, dass ich zu dem Menschen wurde, der ich heute bin. Mit meinen Ecken und Kanten. Mit allem was mich
liebenswert macht oder andere einfach nur nervt.
Wenn ich älteren Menschen begegne, bekomme ich also einen Blick in ihr bisher gelebtes Leben. Das gibt mir zu denken. Wie werden sich meine Erfahrungen auf den Menschen auswirken, der ich, so Gott will, in 20 Jahren sein werde? Werde ich zu jemand, der schreckhaft und unachtsam ist und sich unangenehmen Situationen nicht stellen mag? Oder werde ich zu jemand, der zu eigenen Fehlern stehen kann und, auch wenn es unangenehm ist, um Entschuldigung bitte? Ich weiß es nicht.
In der Bibel findet sich bei den Zehn Geboten eines, das mir helfen kann mich auf mein eigenes Alter vorzubereiten. Das Vierte Gebot lautet: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« Theologisch, wie pädagogisch, gäbe es darüber sicherlich einiges zu sagen. Für mich spricht aus diesem Satz auch, wie ich älteren Menschen begegnen möchte: Nämlich mit einem Vorschuss an Achtsamkeit, Behutsamkeit und Vertrauen.
Wenn ich mich um solch ein Verhalten bemühe, dann hat das auf der einen Seite Auswirkungen darauf, wie ich mich später im Leben verhalten werde und wie man mir begegnen wird. Auf der anderen Seite, macht mein Gegenüber mit mir dann ebenso eine (vielleicht neue) Erfahrung, die Einfluss auf sein zukünftiges Verhalten hat. Für neue Erfahrungen gibt es meines Wissens ja keine Altersbeschränkung. Auch mit einem langen Leben auf den Schultern, kann Mann und Frau offen sein für neue Erfahrungen. Eines weiß ich nur zu genau: Positives Verhalten färbt ebenso schnell ab, wie schlechtes Verhalten.
Soweit bin ich mit meinen Gedanken gekommen, als ich aus einem Impuls heraus mich zu der Frau an der übernächsten Kasse ausstrecke und rufe: »‘tschuldigung, mein Fehler!« Und in der Tat. Meine Worte erreichen sie. Verstohlen blickt sie in meine Richtung und ich glaube für einen Moment ein kleines dankbares Lächeln zu entdecken, bevor sie den Kopf wieder abwendet und ihren Einkaufswagen behutsam ein Stück weiter in der Schlange nach vorne schiebt.
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