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Der Blick zurück

  • Der Blick zurück

Der Blick zurück

Ganz langsam hebt Oma Erna ihren Arm mit der Schaufel in der Hand. Sie weiß es ganz genau, wenn sie sich nur langsam genug bewegt, dann schafft sie es, das Eichhörnchen zu erwischen. Und zack … Mist, daneben.

Oma Erna sinkt auf ihre Knie und fängt an zu weinen. Wie gemein ist das nur von diesem Eichhörnchen. Muss es ausgerechnet hier nach irgendwelchen verbuddelten Nüssen suchen? Ausgerechnet hier am Grab ihres verstorbenen Mannes. Hier liegt doch nun ihr über alles geliebter Werner. Und er soll hier doch seine Ruhe haben. Da hat kein Nagetier etwas suchen und schon gar nicht nach irgendetwas zu graben.

Nach dem Leben graben

Gedankenverloren legt sie die kleine Schaufel neben sich auf den Boden und streicht mit ihren Fingern über das weiche Moos, dass sie an einer Stelle eingesetzt hat. Es passt so schön zu den kleinen Steinen, die sie und ihr Mann von ihren Reisen mitgebracht haben, und von denen sie einige nun ausgelegt hat. Wie von selbst graben ihre Finger nun auch an der Stelle im Boden, an der schon das Eichhörnchen »Hand« angelegt hat. Und plötzlich spürt sie etwas Festes zwischen ihren Fingern. Vorsichtig holt sie es ganz aus dem Boden und puhlt die Erde von dem Ding ab. Nun kann sie erkennen, um was es sich handelt und sofort schießen ihr wieder Tränen in den Augen. Es ist eine Walnuss, eine richtige kleine Walnuss.

Bilder aus ihrer Ehe tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Ihr Werner hat das selbstgemachte Walnussbrot immer am liebsten gegessen. Und Erna musste immer genügend Walnüsse im Haus haben, wenn ihr Mann mal Appetit darauf hatte. »Von allen Nüssen, sind die Walnüsse am gesündesten«, hat er ihr immer wieder gesagt, um dann auszuholen und vortragsmäßig zu referieren, wie viel mehrfach ungesättigte Fettsäuren, Omega-3-Fettsäuren und Spurenelemente wie Selen und Zink eine einzige Walnuss enthält.

Gesund zu leben und dabei immer einen Blick für die Natur zu haben, das war ihrem Werner wichtig gewesen. Beruflich war er bis zu seiner Rente zwar als Elektriker bei einem großen Industrieunternehmen tätig gewesen, aber in seiner Freizeit hat es ihn immer wieder raus in die Natur und vor allem in den Wald gezogen. »Bewegung an frischer Luft tut dir auch gut«, hat er immer zu ihr gesagt und sie dann mitgenommen auf einen neuen Wanderweg, den er entdeckt hat.

»Na ja«, denkt sich Oma Erna, »zumindest gesund ist er gewesen, als er kopfüber die Kellertreppe hinunter fiel.« Kaum gedacht erschrickt sie zuerst und muss dann doch lächeln. Über solch einen schwarzen Humor hätte ihr Werner herzlich gelacht. Es gab wenig, was er richtig ernst genommen hat. »Das Leben ist viel zu kurz zum Ernst sein«, hat er immer gesagt.

Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ist plötzlich gar nicht mehr so traurig. Es ist, als hätte ihr Werner gerade wieder einen Vortrag darüber gehalten, dass das Leben doch viel zu kostbar sei, um lange missmutig oder traurig zu sein. »Es wird Zeit, dass ich ins Leben zurückkehre«, sagt Erna leise zu sich selbst. »Zu lange schon dreht sich alles nur um die Grabstelle hier auf dem Friedhof.« Immerhin ist ihr Werner nun auch schon seit zwei Jahren unter der Erde.

Das Leben wartet nicht

Noch immer hält sie die Walnuss in der Hand und weiß nun ganz genau, was sie zu tun hat. Vorsichtig schiebt sie die Walnuss zurück in den Boden und bedeckt sie mit etwas Erde. Das Eichhörnchen soll doch nicht um den Erfolg seiner Bemühungen gebracht werden, wenn es erneut vorbeikommt und anfängt mit seinen vier kleinen Fingern zu graben. Immerhin war es daran beteiligt Oma Erna eine kleine Lektion über das Leben zu geben. Zwar muss man manchmal erst etwas verbuddeltes aus der Erde ausgraben, um etwas zum Leben zu haben, aber zu lange sollte man damit nicht warten. »Das Leben wartet nicht auf einen «, hört Oma Erna ihren Werner sagen und erhebt sich. »Recht hat er«, denkt sie und läuft langsam zum Ausgang des Friedhofs.

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